Förderverein zur Erhaltung der Dorfkirche Landin e.V.

Erinnerungen an Landin


 

Erinnerungen an meine Kindheit in den Jahren von 1945 – 1951 in LANDIN
von Lieselotte Herrenkind

 

Das einzige aus Ostpreußen gerettete Familienbild, etwa 1943

Hallo, liebe Landiner,

kürzlich bin ich beim Googeln auf die Seite vom „Förderverein zur Erhaltung der Dorfkirche Landin e.V.“ gestoßen und las die Bitte, eigene Beiträge beizusteuern, was ich hiermit gerne tun möchte.

Mit 5 Jahren kam ich 1945 nach Landin und als ich 11 Jahre alt war, zogen wir schon wieder fort. 6 Jahre meiner Kindheit habe ich also in diesem schönen kleinen Dorf erleben dürfen – und es auch nie vergessen.
Vielleicht erinnern sich sogar noch einige von den Alt-Landinern an mich.

Heute, mit 80 Jahren, funktioniert ja da bekanntlich das Langzeitgedächtnis besser als das des kürzlich Erlebten. Mir fielen spontan jedenfalls ´ne Menge Begebenheiten aus der Landiner Zeit wieder ein. Ein paar davon habe ich aufgeschrieben und hoffe, dass sowohl Alt- als auch die Neu-Landiner ein wenig Spaß damit haben.

Lilo Wortha
geb. Herrenkind

 

Neue Heimat Landin

Lilo + Marianne 1944 in Karlsbad kurz vor der Flucht nach Landin

Als wir 1945 als Flüchtlinge, halb verhungert und ziemlich „abgerissen“, in Landin ankamen, waren wir genauso wenig willkommen, wie die Flüchtlinge heute!
Ein Junge sagte mal zu mir: „Haut bloß wieder ab, ihr Polacken!“
Nach unserer Einquartierung bei Frau Hünicke in einer kleinen Kammer, in der 1 Bett stand, in dem wir zu dritt schliefen, bekamen wir später die Möglichkeit, auf den Dachboden der Dorfschule zu ziehen.
Auf der einen Giebelseite war das Zimmer, das nach und nach mit geschenkten Möbeln eingerichtet wurde, und auf der anderen Giebelseite entstand eine kleine Küche. Da das Dach nicht ganz dicht war, schneite es praktisch in unseren Korridor. Ein Besen zum Schneekehren im Haus stand immer bereit.

Im Juli 1946 kam mein Vater aus Norwegen, wo er in einem englischen Internierungslager war, nach Deutschland zurück und fand uns in Landin. In seinem 1. Brief vom 14.8.1946 aus Landin an seine norwegischen Bekannten schreibt er folgendes:
„...Seit kurzer Zeit bin ich nun bei meiner Frau und den Kindern, die auf der Flucht aus Ostpreußen über Karlsbad zu Fuß dann hier in der Nähe von Berlin bei ganz fremden Leuten, am Ende ihrer Kraft angekommen sind. Sie haben alles verloren und wirklich nur das nackte Leben gerettet. Sie besitzen nur das, was sie auf dem Körper tragen... Wir haben keine Betten, kein Geschirr, also Teller, Töpfe u.s.w. Alles müssen wir uns leihen und sind von der Güte und dem Wohlwollen anderer Menschen abhängig...“

Aber auch in Landin gab es hilfreiche Hände, ich denke an Eva Sandberg und „Tante“ Elli Brummerstedt, die uns oft geholfen haben.

Herrenkind schrieb in einem weiteren Brief vom 12.3.1947 nach Norwegen“ von einem sehr strengen Winter und seit Januar auch sehr viel Schnee“ und fährt fort: „Ich will ja nun im Sommer ein kleines Haus bauen und hoffe, dann im nächsten Winter schon etwas besser zu wohnen...“
In mehreren weiteren Briefen erwähnt er immer wieder diesen Hausbau und im August 1948 vermeldet er: „Ich bin mit meinem eigenen Hausbau ganz schön weitergekommen und hoffe, noch im Oktober fertig zu werden und dann in den Neubau einzuziehen...“
Na ja, irgendwann sind wir dann ja auch eingezogen, und es war toll: endlich ein eigenes Zuhause!
Zum Haus gehörte ein großer Garten, in dem viel Gemüse, Kartoffeln, Mais und auch Tabak (Herrenkind war leidenschaftlicher Pfeifenraucher) angebaut wurde. Später kamen Hühner, Enten, Kaninchen und ein schwarzes Schaf dazu. Der Garten grenzte an den Buchtgraben und dieser führte zu einem wunderschönen Teich, den ich geliebt habe.
Ein Teil des Gartens war für’s Kleinvieh abgetrennt und einige Hühner legten ihre Eier irgendwo ab, nur nicht im Stall. Also musste Lilo, also ich, jeden Morgen vor der Schule Hühner tasten! Mit dem Finger in den Po der Henne, so dass ich wusste, ob an diesem Tag 5 oder 7 Eier da sein mussten. Wenn im Nest weniger lagen, wurde im Garten gesucht.
Als Herrenkind dann in Rathenow arbeitete und nur noch sporadisch zu Besuch kam, musste ich unsere Mutti unterstützen und einige Aufgaben übernehmen, z.B. Holz hacken und Hühner schlachten!

Falls sie sich fragen, wieso ich aus Briefen von Herrenkind zitieren kann – nein, er hatte keine Kopien, aber die Kinder seiner norwegischen Bekannten fanden uns im Internet! Unser jüngster Sohn Tim befasst sich mit der Genealogie unserer Familie und hat dies auch ins Netz gestellt und 2011 bekam er eine Mail aus Norwegen. Im Jahr darauf besuchten Knut und Marie aus Norwegen uns in Hönow, wo wir jetzt wohnen, und brachten Kopien aller Herrenkind-Briefe und –Bilder, die er in Norwegen gemalt hat, mit.

Näheres kann man erfahren unter:   www.genealogie-wortha.de/herrenkind.html

 
Nun aber mal zu meinen Erlebnissen:


Sommersprossen

Ich war ja ein ziemlich mageres Kind, hatte rötlich-blonde Haare und gaaaanz viele Sommersprossen! Also, nicht die Schönste im ganzen Land! Außerdem war ich eine absolute Heulsuse. Wenn eine Kuh anfing zu muhen, dann dachte ich, eine Sirene geht los und die Bombenflieger kommen, dann heulte ich vor Angst schon wieder los!
Ja, die Kriegserlebnisse wirkten noch lange nach!

Es muss etwa 1948 gewesen sein, als ich morgens mit Zahnschmerzen erwachte und die eine Gesichtshälfte ganz geschwollen war. Also sollte ich zum Zahnarzt nach Friesack. Damals gab es weder eine Zug- noch eine Busverbindung dorthin, kein Auto, kein Fahrrad war vorhanden; entweder ca. 10 km per pedes oder der Milchwagen kamen infrage.
Die Bauern mussten die Milch nach Friesack in die Molkerei liefern und fuhren, sich abwechselnd, von Bauernhof zu Bauernhof, sammelten die Milchkannen auf ein Pferdefuhrwerk und brachten sie zur Molkerei: Ich fuhr also mit so einem Fuhrwerk mit, stieg an der Molkerei vom Wagen und zog los. Den Namen des Zahnarztes wusste ich noch, aber die Straße war mir entfallen. Da kamen mir 2 Männer entgegen, die ich fragen konnte. Die beiden guckten auf mich herab, und der eine sagte grinsend zum anderen: „Kiek ma, die Kleene wurde von ihrer Mutter durch 'n Ventilator beschissen!“ Genauso hat er’s gesagt! Und ich, total verstört, rannte heulend zurück zur Molkerei und fuhr wieder nach Landin zurück. Am nächsten Tag zog mein Vater mir den Zahn mit der Flachzange! Seit diesem Ereignis begann mein Sommersprossen-Trauma. Ich ging auch nicht mehr baden, weil es ja keine Badeanzüge mit langen Ärmeln gab.
 


Sommer und Winter in Landin

Eigentlich war die Zeit in Landin für uns Kinder sehr schön. Man konnte durch die Wälder, über Felder und Wiesen streifen, konnte im Buchtgraben und dem Teich angeln oder mit 'ner Backmolle Kahn fahren und man war immer in der Natur und an der frischen Luft.
Im Winter sind wir vom Kirchberg Schlitten gefahren. Da ich keinen hatte, habe ich mich auf meine Holzpantinen gesetzt und bin damit runtergerutscht. Nach kurzer Zeit waren sowohl die Socken als auch die Pantinen durchnässt. Ich ging dann mit einem Mädchen mit nach Hause. Sie hatte ein Kartenspiel, womit wir stundenlang spielten und Raum und Zeit vergaßen. Meine Pantinen stellten wir zum trocknen in die Ofenröhre und hängten die Socken an den Ofen. Nach längerer Zeit nahmen wir einen merkwürdigen Geruch wahr; die Ofenröhre aus Metall war derart heiß geworden, dass die Sohlen meiner Pantinen angekokelt und schon ziemlich schwarz und heiß waren. Mit dem Feuerhaken transportierten wir sie nach draußen in den Schnee – es hat richtig gezischt.
Übrigens schrieb mein Vater seinen norwegischen Bekannten folgendes: „Eine richtige Katastrophe ist es mit der Fußbekleidung. Um meine Kinder nicht mit nackten Füßen laufen lassen zu müssen, habe ich ihnen Holzsohlen gemacht und die dann mit Stoff benagelt.“
 


Die beste Buttermilch aller Zeiten

Manchmal habe ich am Abend Kühe von der Koppel geholt und zum Hof getrieben, dafür bekam ich oft ein Kännchen Buttermilch, in der noch Butterflöckchen schwammen. Sie schmeckte einfach köstlich! Nie wieder in meinem Leben – und ich bin inzwischen 80 – habe ich so eine cremige und wohlschmeckende Buttermilch getrunken. Mit der heute im Handel angebotenen nicht zu vergleichen!

 
Ganz kurz noch was zu meinem Vornamen Lieselotte:
Einmal durfte ich bei einem Bauern auf dem Leiterwagen mitfahren und unterwegs sagte er zu seinem Pferdegespann: „Hüh Liese Lotte“. Nein, wie zwei Pferde wollte ich nicht heißen! Zu Hause habe ich dann regelrecht gefordert, dass alle ab sofort „Lilo“ zu mir sagen, das ist auch bis heute so geblieben.
 


Landfilm

In der Gaststätte von Hertha Muchow fanden im großen Saal Filmvorführungen statt. Oft war ich nicht da, weil dafür einfach kein Geld vorhanden war. Aber an einmal kann ich mich gut erinnern; wir saßen nämlich „Rasierloge“.
Der Saal war schon so voll, dass meine Schwester und ich uns auf den Fußboden vor der ersten Reihe setzen mussten, das Kinn nach oben gereckt, wie zur Rasur und die Leinwand vor der Stirn. An den Film kann ich mich nicht mehr erinnern, aber wir fanden es bestimmt ganz toll!
 


Erinnerung an Frl. von Bredow

An einige Personen aus dem Dorf habe ich noch ganz deutliche Erinnerungen, z.B. an Fräulein von Bredow; mein Vater nannte sie „Walli von“. Sie war ein wenig merkwürdig, im eigentlichen Sinne des Wortes merk würdig! Bei einer ersten Begegnung dachte ich, sie sei ein Mann. Sie trug Knickerbocker, eine Männerjoppe, dazu so eine Prinz-Heinrich-Mütze und rauchte Tabakpfeife. Dazu trug sie einen Spazierstock mit einem Geheimnis! Da ich ja des Öfteren für sie und ihre Mitbewohnerin Milch geholt habe, hat sie mir gegenüber das Geheimnis gelüftet. Man konnte nämlich die Krücke von diesem Stock abschrauben, und im Stock steckte ein Reagenzröhrchen, gefüllt mit Hochprozentigem.

Die Mitbewohnerin war eine ältere „feine Dame“, sie hieß Frau von Liebig oder von Liebert. Man sah ihr noch die „besseren Zeiten“ an. Manchmal trug sie eine große edle Brosche: eine goldgefasste Gemme.
 


Noch eine Geschichte, erst lustig dann fast tragisch

Es muss 1949 oder 1950 gewesen sein; ich ging inzwischen in Kriele zur Schule. 2 Schüler/innen durften in den Sommerferien in ein Pionierzeltlager am Üdersee in der Schorfheide fahren, und das waren die Tochter vom Bäcker Bierhals aus Kriele und ich. Das Zeltlager wurde ziemlich streng geführt, es lag direkt am Üdersee und war ringsum eingezäunt; der Zaun führte sogar noch ein paar Meter ins Wasser. Am Eingang war ein Schlagbaum mit Wache. Gleich in den ersten Tagen fand anlässlich der Namensgebung ein großer Fahnenappell statt. Wir standen alle um den Fahnenmast herum, hörten – oder auch nicht – verschiedenen Reden zu und harrten der Dinge, die noch kommen sollten. Der Appell fand vor einem Haus statt, an dem ein verhülltes Schild hing. Nach einem Trommelwirbel zog jemand an einer Schnur, um das Schild zu enthüllen. Die Hülle rutschte in Etappen, d.h. die Schrift wurde in einzelnen Silben sichtbar, etwa wie folgt: Li-se-lot-te Herr• und an dieser Stelle klemmte der „Vorhang“! Nur noch mal zur Erinnerung: mein Mädchenname war Lieselotte Herrenkind.
Mir fuhr der Schreck in alle Glieder, mir brach der Schweiß aus allen Poren, mir war schlecht und ich musste zur Toilette, denn mir wurde klar, das Zeltlager wird nach mir benannt. Oh je, oh je, jetzt muss ich sicher gleich nach vorne und 'was sagen. Was soll ich bloß tun?! Und dann die Erlösung: der Rest der Verhüllung fiel herunter und gab die letzte Silbe frei: „mann“, also „Liselotte Herrmann“; sie war eine kommunistische Widerstandskämpferin.
 


Und nun zum 2. Teil der Geschichte

Die Dauer des Ferienlagers betrug 3 Wochen. Wir hatten schon nach der Hälfte der Zeit Heimweh! Wir wollten nur noch nach Hause, aber dann brach eine Epidemie aus. Ich weiß heute nicht mehr, was es war, ob Masern oder Scharlach, ob Pest oder Cholera. Jedenfalls wurde über das Lager Quarantäne verhängt. Frau Bierhals aus Kriele kam ihre Tochter zu besuchen und wollte sie mit nach Hause nehmen, was natürlich abgelehnt wurde. Wir konnten uns nur über den Schlagbaum hinweg unterhalten und planten flüsternd unsere Flucht. Schnell packten wir unsere Sachen, gingen in einem unbeobachteten Moment zum See, rafften unsere Röcke, hoben das Gepäck über den Kopf, wateten durch das Wasser um den Zaun herum und trafen uns an einer verabredeten Straße mit Frau Bierhals und ihrem kleinen Sohn. Dann marschierten wir los. Es war ein heißer Augusttag. Bald hatten wir fürchterlichen Durst. Nach einiger Zeit kamen wir an eine Tankstelle und Frau Bierhals ging hinein, um uns Brause zu holen. Der Tankwart berichtete ihr, dass er einen Anruf erhalten hat, ob er eine Frau mit 3 Kindern gesehen hätte. Wir hatten unsere Brause noch nicht ausgetrunken, da kam ein LKW, lud uns auf und brachte uns zurück ins Lager!
 


Unser Abschied von Landin

Anfang 1949 sind wir in das von Herrenkind erbaute kleine Haus gezogen. Er selbst arbeitete inzwischen in Rathenow, wo er sich ein möbliertes Zimmer und eine anspruchsvolle Geliebte nahm. Schon 1951 verkaufte er das Haus und die beiden zogen nach Berlin.

Nun mussten auch wir -meine Mutter, meine Schwester Marianne und ich- Landin verlassen, was sehr schmerzlich war, denn wieder einmal waren wir heimatlos.
Landin hatte so viel Schönes: die wunderschönen Wälder, wo wir Himbeeren pflückten und Bucheckern sammelten; dieser herrliche alte Lindenweg, wo ich den ersten -und einzigen- Wiedehopf meines Lebens sah; die Kraniche und auch Schwäne auf überschwemmten Wiesen; der kleine Zaunkönig, der am Schuppendach sein Nest baute und, und, und...

All´ diese schönen Erinnerungen verdanke ich Landin und bewahre sie in meinem Herzen!

 
Lilo Wortha geb. Herrenkind
 


© 2015-2020 Förderverein zur Erhaltung der Dorfkirche Landin e.V.         Startseite       Kontakt       Impressum / Datenschutz